Rechts: mein Terminkalender. Rot markiert der Dienstagabend, 19 Uhr. Neuzuzügerabend. Ausrufezeichen. Alle Vernetzer werden kommen. Punkt.
Links: mein Koch- und Backbuch. Handgeschrieben. Ich nutze die Zeit, bis ich aus dem Haus gehen muss, durchblättere die Seiten auf der Suche nach dem Quarkkuchenrezept meiner Tante Supi. Finde stattdessen Uromis Osterlamm. Rabhas Tajine mit Dörrpflaumen. Eingelegte grüne Heringe. Käsekranz Gougère oh là là. Lemon Cheese, original aus Lancashire von Mrs. Freathy. Frau von Pzibilskys Ostlichterfeldes Tortenbodengeheimrezept. Heddas Rød grød med fløde aus Jütland. Schwarzwälder Hildabrötchen. Malakowtorte à la Dora Böhrs. MALAKOWTORTE! Ein Stück dieser Kalorienbombe stand jedes Jahr, zu meinem Geburtstag, auf einem Kuchenteller, auf einer Papierserviette, mit einer Kerze in der Sahneoberfläche, auf unserer Fussmatte, im Treppenhaus des Mietshauses. Daneben immer eine Rosenkarte: Nur das Beste zum Wiegenfeste wünscht Dir, Deine Nachbarin Dora Böhrs. Ich erinnere mich: Dora - die feine, alte Dame. Immer mit Hut, Handschuhen und hochhackigen Pumps, wenn sie mit dem Bus aus unserem idyllischen Hinterweltvorort in den Kommerz der Innenstadt fuhr. Dienstags putzte sie das Treppenhaus mit Grüner Seife. Samstags ging sie ins Theater. Oft stand sie bei uns im Flur, sprach mit meinen Eltern über dies, das, jenes. Sie schenkte mir das Ballkleid ihrer verstorbenen Tochter für ein Schulfaschingsfest und orangefarbene, baumelnde Plastikohrclips aus den siebziger Jahren, die ich liebte. Ein Mal übernachtete ich in ihrem Gästezimmer, mit drei Betthupferln auf dem Kopfkissen und einem Comicheft darunter. Ihre Wohnung roch nach einer Mischung aus Chanel No. 19 und Schokoladenpudding, ihre Hausschuhe hatten rosafarbene Puschel auf dem Spann. Manchmal schimpfte sie leise aus dem Fenster, wenn wir Kinder, vertieft in unsere Sommer-Wiesen-Garten-Spiele, mittags ihr Schläfchen störten. Sie besass einen Einkaufswagen aus Korbgeflecht, den sie liebevoll Monsieur Hackenporsche nannte: Wie oft zog ich ihn für sie unsere Strasse und dann Treppenstufe um Treppenstufe bis vor die Wohnungstür hoch! An Nikolaus verzierte ich den Monsieur mit selbst gebastelten Weihnachtssternchen. Und, ja - ich erinnere mich genau: Die alte Dame probierte sich durch das gesamte Buffet anlässlich meiner Konfirmation, schenkte mir einen Krupps Reisefön und hatte am Abend einen Schwips. Manchmal bat sie mich, Medikamente von der Apotheke abzuholen oder ein Duzend Eier von der Bäuerin um die Ecke. Aus der Blechdose im Flur durfte ich mir anschliessend einen der verklebten Bonbons nehmen, die so unvergleichlich schmeckten. Ich hielt ihr oft die schwere Eingangstür auf, wenn sie mit gigantischen Kofferbergen von einer ihrer Schiffsreisen zurückkehrte. Und wirklich, ich sagte meist brav Guten Tag und Auf Wiedersehen, gab ihr die Hand, oft mit Knicks. Und sie? Sie lächelte mich an. Irgendwann, später, viel später, zog ich fort, zog viel um, immer mit dem Malakowtortenrezept und den orangefarbenen Plastikohrclips aus den siebziger Jahren im Karton.
Wirkliche Nachbarn waren wir! Pflegten ein gutes Zusammenleben im begrenzten Raum unseres Mietshauses, unserer Strasse, unseres Quartiers, unseres Vorortes, unserer Stadt.
Rechts liegt noch immer mein Terminkalender mit der roten Markierung. Die Uhr warnt: 18.45! Es ist Zeit! Das Quarkkuchenrezept meiner Tanta Supi scheint für heute verschollen. Dafür habe ich warme Erinnerungen an eine Nachbarin gefunden. - Ich gehe zum Gemeindehaus. Rund sechzig der Menschen, die in den vergangenen zwölf Monaten nach Düdingen zogen, haben sich den Abend reserviert, stehen ein wenig schüchtern, aber mit offenen Gesichtern, freundlich und interessiert, mit Kindern, Hund, Regenschirm und Lächeln am Dorfbrunnen. Fast der gesamte Gemeinderat, einige Verwaltungsangestellte und alle Vernetzer Düdingens haben sich ebenfalls Zeit genommen, die Mitbürger persönlich willkommen zu heissen, ihnen auf einem Dorfrundgang ihren neuen Wohnort näher zu bringen. Für jeden der Gäste ist in den kommenden eineinhalb Stunden des Abendspazierganges etwas dabei: Zahlen und Fakten, die erstaunen. Tipps, die ans Herz gelegt werden. Details, die Appetit machen. Einblicke in Historisches, die erklären und einordnen helfen. Es gibt duftende Winkel für schnüffelnde Hunde, die sich ebenfalls ihre neue Umgebung erobern möchten. Es gibt gigantische Mai-Regenpfützen für die süssesten Neuzuzüger Düdingens, die Gummistiefel-Dichtigkeitstests durchführen und sich beim anschliessenden Apéro im Hotel Bahnhof zu später Stunde wacker schlagen. Bei Brot, Wurst, Käse und Gemüsestäbchen. Inmitten angeregter Gespräche.
Mein ganz persönliches Resümee? Was für ein warmer Empfang!
Neue Düdinger. Neue Nachbarn. Wunderbar. Vielleicht mit Rezept. Und Zeit. Zum Austauschen. Sich kennenlernen. Helfen. Zusammen leben. Zusammen arbeiten.
Die Malakowtorte meiner Nachbarin war luftig, cremig, süss, unvergesslich. Ja, vielleicht steht bald ein weiteres Rezept in meinem handgeschriebenen Koch- und Backbuch, ein Rezept der neuen Düdinger Einwohner: Solothurner Wysüppli, Philippinische Lumpia mit süsser Chilisauce, Ministrone ticinese, Brasilianischer Arroz de Bacalhau, Berner Mönchsklösse oder … oder …oder …
Ein Abend im Mai: Gemeinderäte, Vernetzer und … Zuzüger? Nein!… neue Düdinger, neue Nachbarn! Willkommen!
Kerstin Frickmann
(für die Vernetzer V+ Düdingen)
Abwärts. Eine raue Betonrampe. Am Ende rechts und links Plastikblumen. Auf einer abgewetzten Couch sitzen die Hautfarbschattierungen unserer Erde: von Gelblich über
Braun bis Schwarz. Die Männer lächeln, stehen auf, verneigen sich, geben mir die Hand. Bonjour. Taschi delek. Hello. Dobryj den. As salam aleikum. Sie bieten mir einen
Platz in ihrer Mitte an. Ich setze mich, bin der weisse Tupfer dazwischen und – Schwupps! – Teil dieser bunten Welt. Ein international anerkannter Gesprächsstoff? Das Wetter:
Kälte, Sonne, Regen. B. kommt durch die offene Stahltür der Zivilschutzanlage, umarmt mich. Ich bin verschnupft, muss niesen, husten. Ihre Worte fliessen ineinander: Hatschi–gutbesserung–freundin? Ich nicke, fahre mit dem Thema Wetter fort, gestikuliere, ahme mit zappelnden Fingern Wassertropfen nach. B. legt ihre Stirn in Falten, ernst, grinst dann plötzlich breit. Ja-ja, sie habe gestern auch geduscht! Ich muss lachen ob des Missverständnisses, versuche, aufzuklären, gebe mein Bestes, steigere die Tropfenimitation zu einem Unwetter, untermale akustisch. Ich hätte wohl doch Entertainerin werden sollen. Es gelingt. Ah-verstehen–verstehen-wetter-ja–ja-schlecht. Und: Nein–nein-spaziergang-no–regenschirm. Ich stehe auf, gehe hinein in die unterirdische Welt. Oben? Schülerschweiss. Unten? Toilettenspülungen. Unten-unten? Drei Bunt-Gemischte schauen ein Tennismatch im Fernsehen, zwei Tibeter fegen die Küche, ein Einzelner sitzt im Essraum am Tisch: Papierstapel. Stifte. Grazile saubere Buchstaben, wie eine Mischung aus Hebräisch und Arabisch: Amharisch, die Landessprache in Z.’s Heimat am Horn von Afrika. Der Mann sitzt in dem fensterlosen Raum, verfasst seine Lebensgeschichte, arbeitet jeden Tag daran. Vor ihm liegt die Seite 148: Damals ist er noch jung, 32 Jahre alt, arbeitet für das Militärregime, die damalige Regierung in seiner Heimat nach dem Sturz der ältesten Monarchie der Welt, nach Kaiser Haile Selassie. Vielleicht wird er ab Seite 178 die 20 Jahre Gefängnis beschreiben, zu denen er nach dem erneuten Regierungswechsel verurteilt wurde. Seite 250? Schweizer Alltag im Empfangs- und Verfahrenszentrum in Vallorbe? Ab 260 folgt eventuell die Zeit hier, knapp
10 Seiten später wird das Thema Rom sein, Italien. Z. muss die Schweiz verlassen, hier ist sein Fall abgeschlossen. Gemäss Dubliner Abkommen ist allein der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in den der Asylsuchende oder Flüchtling nachweislich zuerst eingereist ist. Wir unterhalten uns. Auf Englisch. Er erzählt. Ich erzähle. Ein Geben und Nehmen. Seine Heimat, mein Heimweh. Kinder, Enkelkinder. Nationalessen. Arbeitslosigkeit in Europa. Kriege mit Eritrea und Somalia. Das über 4000 m hohe Hochland in Nordostafrika, die Berge der Schweiz. Der Dschungel, das norddeutsche Tiefland. Marathonläufer, Jogger. Kaffee! Er liebt Kaffee! Bereitet
mir – und nur mir – ein Glas zu. Schwarz, pur. Gut, sehr gut. Er beobachtet mich beim Trinken. Lächelt. Auch mit den Augen. Ich schaue in sein glattes Gesicht, bitte ihn um sein Geheimnis von Faltenfreiheit mit seinen 66 Jahren. «Coffee, no tea, no alcohol and every morning half a liter of water.” Kaffee, keinen Tee, keinen Alkohol und jeden Morgen einen halben Liter Wasser? Meine Chancen auf einen dunkleren Teint durch aufgebrühtes Kaffeepulver sind Null. Das weiss ich. Das mit dem Wasser werde ich probieren. Wir kichern wie Kinder. Er wird gehen müssen. Ich bleibe. Er verspricht mir einen Brief aus Rom. Und ich werde diese ungebleichten, strahlend weissen Zähne im schwarzen, faltenfreien Gesicht vermissen.
Tannengrün für Wüstenmenschen? Glitzerkram für
Weltflüchtlinge? Gebäck mit rosarotem Zuckerguss für
Besitzlose? Ich stehe auf der Leiter, hänge Kugeln in das
Gittertor, die Zahl 11 mittig. Ein kleines Lichtermeer am
Ende einer Betonrampe: Adventsfenster 2013 für die
Asylunterkunft.
Ein Afrikaner spurtet in Flipflops, Shorts, kurzärmelig mit
Kehrichtsack an mir vorbei, grinst, sagt «Brrrrrr!». Ich
feuere ihn an, er beschleunigt, lacht, erreicht die Mülltonne,
kehrt um, gewinnt das Rennen gegen die Minusgrade,
schlüpft zurück in die Wärme hinter der Stahltür.
Die Multikulti-Frischluft-Rauchercouch füllt sich: Kaffeeduft,
Teedampf, Glimmstengel. Handyklingeln, Babylonisches
Sprachgewirr. Lachen. Schlichtes Lachen.
Freundlich, offen, interessiert, die Männer, die sich zu mir
gesellen: «May I help you? – Kann ich Ihnen helfen? –
Was bedeuten die Zahlen? – Der Stromanschluss ist dort
drüben. – Dekorieren Sie für das Jahresende? – Soll ich
Draht für Sie kürzen? – Machen Sie das für uns? Nur für
uns?» Gesichter, die staunen.
Zwei Stunden später bin ich gefroren und ein Adventsfenster
an einem fensterlosen Ort fertig. Dreissig, vierzig
Lächeln habe ich gebunkert: Tagesretter in einer Welt,
die von so vielen Zitronenmenschen bewohnt wird. Mein
Vorrat für 2014!
Zu guter Letzt noch etwas Persönliches an Euch, dort
unten am Ende der Betonrampe: Ich danke Euch, danke
Euch für das nette «Hello! How is life?» auf dem Trottoir,
das «Bonjour, comment ça va?» auf der Hauptstrasse, das
«Sabaljer. Labas?» auf dem Schulplatz, das «Dobryi djen»
und «Bom dia» in Euren Räumen.
Es duftet nach Tanne. Glitzert am Gittertor. Ich klappe
die Leiter zusammen. Gehe. Die Lächeln nehme ich mit:
Vorratshaltung.
Kerstin Frickmann
(Mitglied der Begleitgruppe Asylzentrum Düdingen)