Schreier - Schweiger - Schattenlose
von Kerstin Frickmann
Der Mann: »Akte Nummer 101264: Gewichte an die Arme!
Die Person ist widerspenstig, aktenkundig.
Festschnallen!
Ablassen!«
Die Zeit läuft.
Ich hänge verkehrt herum,
lichtlos.
Die Welt steht Kopf.
Das Wasser ist zu dick zum Atmen:
»Luft!«
Ich bin nicht tot,
nur gequält, zur Schau gestellt.
Sie heben mich an,
schreien Fragen.
Meine Antworten sind keine,
für sie.
Ich schweige, tropfe.
Weine?
Nicht!
Der Mann: »Eintrag in Akte 101264: Erhöhung des Strafmaßes!
Grund: Uneinsichtigkeit. Verweigerung. Wortlosigkeit.
Ablassen!
Doppelte Einheit! «
Die Zeit läuft.
Plötzlich: Ein stechender Schmerz
hinter meinen Ohren, fast im Nackenbereich.
Die Haut zerreißt,
in Spalten.
»Kiemen!
Sie sind machtlos.
Ich lebensfähig,
auch unter Wasser.«
Ich denke.
Sie lassen mich hängen.
Ich rudere mit den Armen, werfe meinen Körper.
Sie heben mich an,
schreien Fragen.
Meine Antworten sind keine.
Ich schweige, tropfe, lache
im Kopf.
Sie tragen ein,
erhöhen das Maß,
lassen mich ab
ins Wasser.
»Komm! Strampel mit! Rudern wir mit den Armen,
ertrinken fast,
doch bekommen Kiemen.
Sie werden uns nichts anhaben können!
Nichts.
Wir sind Schattenlose,
sind Paria!«
Anmerkung: Der Begriff Paria entstammt dem Kastenwesen Indiens, einer religiös abgestützten Gesellschaftsordnung. Die Paria gehören zu den Kastenlosen, sind Schattenlose, Unberührbare, Ausgestoßene, Außenseiter. Sie selber bezeichnen sich als Dalit, ein Wort aus dem Sanskrit. Mit ihm drücken sie aus, wie sie die Wirkung des Kastenwesens erleben. Dalit bedeutet so viel wie zerrissen, zerbrochen, vertrieben, zerdrückt, zur Schau gestellt, niedergetreten, zerstört. 250 Millionen Menschen gehören allein in Indien zu den Paria, das entspricht rund 25% der indischen Bevölkerung (Stand: 2013).
Atlasseide, Wolken, Mockturtle, Engelszene
von Kerstin Frickmann
Ich saß auf dem Schoß meiner Urgroßmutter. Stramm ihre Oberschenkel. Glitschig der Rock aus Atlasseide darüber. Ich glitt abwärts, sie half mir wieder hinauf. Ich durfte rutschen, sie duftete nach Seife.
Wir hörten beide das"Pah-Pah", diesen kurzen trockenen Laut, ähnlich einem Kuss. Er entstand, wenn mein Urgroßvater wie ein Fisch an seiner dicken Zigarre sog. Wolken hüllten uns drei dann ein.
Das Eau de Toilette auf der Frisierkommode: Eine Kristallflasche mit umsponnener Leitung, ein Zerstäuber-Bällchen mit Fransen, die kitzelten.
Der Geruch der Mettwurst! In dicken Scheiben lag sie auf meinem Schwarzbrot. Der Geschmack der Mockturtle, die ich mit einem riesigen Suppenlöffel in meinen Kindermund schaufelte.
Ich durfte den Mittagsschlaf allein im großen Ehebett meiner Urgroßeltern machen. Inmitten aufgeschichteter, weißer, mit Monogrammen
bestickter Zierkissen. An der Wand über dem Kopfende des Bettes ein opulenter Goldrahmen. Darin ein Ölbild, mit Engeln, ja, irgendetwas mit
Engeln.
Verblasst die Details der Engelszene.
Vielleicht bin ich deshalb keiner geworden.